Laut dem „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“ (dwds.de) ist eine Übersprungshandlung eine „in einer Konfliktsituation auftretende Handlung oder Verhaltensweise ohne sinnvollen Bezug zu dieser Situation“. Man würde also eine angemessene Reaktion erwartet, stattdessen wird etwas alternatives, möglicherweise völlig unerwartetes gezeigt. Das passiert beim Menschen genauso wie beim Hund. Ein gutes Beispiel, sowohl für den Menschen als auch den Hund, wäre etwa das Kratzen am Kopf. Ein Mensch greift sich etwa an den Kopf, wenn er über ein Problem nachdenkt. Ein Hund beginnt sich hinter den Ohren zu kratzen, wenn er in einer Situation nicht weiter weiß.
Im Zughundesport gibt es viele Situationen, in denen unsere Hunde große Aufregung erleben. Beim Warten auf den Start, beim Laufen selbst, in den Pausen, wenn andere Hunde dabei sind, wenn das Tempo am Rad/Scooter höher wird… ich könnte diese Liste endlos fortsetzen. Oft wissen sich die Hunde dann nicht mehr zu helfen, haben vielleicht nie gelernt angemessen und gelassen zu reagieren, „Cool zu bleiben“. Es kommt zu Übersprungshandlungen. Leider sind diese nicht immer so harmlos wie ein „hinter den Ohren kratzen“… Ich habe mir Hundetrainerin und Verhaltensberaterin Anja Döring geschnappt und ihr ein paar Fragen zu dem Thema gestellt…:
Anja, wie kann sich dieses besondere Verhalten im Zughundesport äußern?
Häufig sieht man Übersprungshandlungen schon vor oder während des Einspannens der Hunde. Hier ein paar Beispiele:
- Der Hund bellt oder schreit heftig,
- Kopfloses Gerenne
- Umgelenkte Aggression gegenüber Menschen oder anderen Hunden in Form von Abschnappen oder Beissen
- Wiederholtes in die Leine beissen oder Gezergel
- Auffälliges Beschwichtigen durch über die Schnauze lecken
- usw.
Ist das nicht nur ein Zeichen dafür, dass der Hund Freude hat und endlich arbeiten möchte?
Ganz klar ein Jein. Einerseits ist es natürlich, dass der Hunde freudige Erregung über eine Tätigkeit zeigt, die ihm Freude bereitet oder selbstbelohnend ist. Die Zugarbeit baut auf Triebverhalten in Form des Jagdtriebes auf. Hierbei werden Hormone ausgeschüttet, die mit einer Verliebtheit zu vergleichen sind. Im Hirn findet eine Party der Glücksgefühle statt. Andererseits sucht sich ein Hund mit geringerer Selbstregulation ein Ventil, wenn die Erwartung diese Handlung auszuführen nicht zeitnah erfüllt wird. Je geringer die Selbstregulation, desto massiver die Übersprungshandlung. Von Bellen bis hin zu einem körperlichen Übergriff ist die Spanne recht groß. Hier kann man gerne an die Werbung mit den Kindern und den Ü-Eiern denken. Manch ein Kind sitzt da, wartet gemütlich oder auch sehr anstrengt die Zeitspanne ab und kassiert als Belohnung ein Zweites, andere fallen direkt über das Ei her, weil sie den Frust des Wartens einfach nicht ertragen können. Hierbei und auch im Zughundesport geht es klar um einen Belohnungsaufschub, denn der Reiz auf den der Hund wartet, wird erfüllt in dem er ziehen darf. Manche werden mit einem hohen Maß an Selbstregulation geboren oder sind dahingehend noch gut trainierbar, während andere eben weniger Möglichkeit haben, diese zu erlernen. Dies ist bei Hund und Mensch gleichermaßen zu beobachten und eine klare Typsache, was absolut nicht negativ zu bewerten ist.
Jetzt ist das Kind schon in den Brunnen gefallen! Mein Hund beißt in die Leine, zwickt mir in die Hände oder bellt lautstark. Muss ich mit dem Sport aufhören?
Sollte der Hund massive Übersprungshandlungen zeigen, muss das nicht das endgültige Aus für den Sport sein. Man sollte aber defintiv daran arbeiten, damit auf Dauer weder Mensch noch Tier verletzt werden. Hunde, die dazu neigen andere zu verletzen, haben auf dem Trail nichts verloren. Ebenfalls bedeutet das Zeigen eines solchen Verhaltens auch durchaus, dass der Hund keine adäquate Lösung für seinen empfunden Stress hat. Hier macht es definitiv Sinn einige Schritte zurückzugehen und mehr Ruhe in den Aufbau zu bringen. Sollte das Verhalten sehr heftig oder auch gefährlich sein, macht es Sinn sich professionelle Unterstützung zu suchen. Letztendlich ist es auch immer die Frage, ob und wie sehr es stört oder gefährlich ist? Unser Hund Rocket z.B. fiept bei Frust recht laut, lässt sich aber ohne Probleme ins Line-Out stellen und arbeitet voll fokussiert ohne anderen Hunden beim Überholen oder Überholtwerden Aufmerksamkeit zu schenken. Hier sehen wir aktuell keinen Handlungsbedarf für uns oder ihn.
Wie lange kann so ein „Neuaufbau“ des Trainings dauern?
Eine pauschale Antwort ist hier kaum möglich, da es an der Konsequenz des Halters, dem Trainingsansatz und auch an der Unterbrechung/Umlenkung liegt, die man hierfür wählt. Manchen Hunden ist es möglich nach nur wenigen Malen der Unterbrechung unerwünschtes Verhalten zu unterlassen, anderen nicht. Hier spielt es auch eine große Rolle wie lange und häufig der Hund diese Übersprünge ungehindert ausführen konnte. Durch Wiederholung manifestiert sich eine Verhaltensweise und ist diese erst verankert, kann es länger dauern sie wieder loszuwerden. In den meisten Fällen, die wir im Training betreut haben, war es den Kunden schon nach wenigen Wochen möglich, wieder achtsam in das Training einzusteigen. Es kann einem enorm viel Zeit und Frust ersparen sich direkt Hilfe bei einem kompetenten Trainer oder Trainerin zu holen.
Gibt es etwas, das ich sofort tun kann?
Auf jeden Fall. Man lässt den Hund erstmal nicht mehr in diese Situation kommen, in der er dieses Verhalten abspulen kann. Gut ist es auch genau zu beobachten, an welchem Punkt der Hund schon mit diesem Verhalten beginnt und vorher für die nötige Ruhe zu sorgen.
Wollt ihr mehr über das Thema wissen? Ihr könnt eure Fragen gerne auf Facebook stellen, in der „Trailsports Community“ Gruppe, oder ihr wendet euch direkt an die CaniXCrew Adventures:
MEET: Anja Döring von CaniXCrew Adventures
Anja ist 31 Jahre alt und nach §11 TierSchG anerkannte Hundetrainerin und Verhaltensberaterin mit 10 Jahren Berufserfahrung. Ihren beruflichen Ursprung hat sie in der Notfallmedizin.
Zeitnah darf sie sich zertifizierte Hundephysiotherapeutin der ATM-Akademie für Tiernaturheilkunde nennen.
Seit 2017 nimmt sie national und international erfolgreich an Schlittenhunderennen teil.
Seit 2020 hat sie den 2. Vorsitz in Deutschlands größtem Schlittenhundeverein, dem SCV Hessenounds, inne.